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Full text of "Goethes wetzlarer verwandtsehaft.."

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Goethes Wetzlarer 
Verwandtschaft 

Robert Sommer 





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FROM THE BEQUEST OF 

HUGO REISINGER 

OF NEW YORK 
For the purchase of German books 



Goethes 

Wetzlarer Verwandtschaft 


Von 


Robert Sommer 

Dr. med. et phil. 

o. Professor an der Universität Gießen 


Mit 8 Abbildungen 



LEIPZIG 

Verlag von Johann Ambrosius Barth 


3,J)T 



HUGO REISIN6EP FUND 


Spamersche Buchdruckerei in Leipzig. 


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Die Lehre vom Genie steht größtenteils noch 
unter der Nachwirkung der Ideen, die darüber am 
Ende des 18. Jahrhunderts besonders im Hinblick 
auf die schöpferische Tätigkeit Goethes ausgebildet 
worden sind. Das Genie erscheint dabei als eine 
aus der Tiefe der Seele hervorquellende, unwillkür- 
liche Schöpfertätigkeit, deren Entstehung und eigent- 
liche Natur nicht weiter erklärt werden kann. Aus 
dieser grundlegenden Anschauung ist die fast religiös 
zu nennende Verehrung des Genies, die sich bei 
einer Reihe von sehr bedeutenden Denkern und 
Schriftstellern des vergangenen und gegenwärtigen 
Jahrhunderts findet, entstanden. 

Dieser Auffassung erscheint es beinahe als ein 
Sakrileg oder als rationalistische Torheit, wenn in 
neuerer Zeit auf der Grundlage der beobachtenden 
Psychologie und Psychopathologie, sowie einer natur- 
wissenschaftlich vorgehenden Familienforschung ver- 
sucht wird, auch die Erscheinung des Genies vom 
Gesichtspunkte einer genetischen Psychophysiologie 
zu betrachten, und soweit als möglich im Zusammen- 
hang mit der Analyse der angeborenen Anlage zu 
erklären. Allerdings sind solche Versuche mehrfach 
unter völlig ungenügenden Voraussetzungen und bei 
starkem Mangel an methodischen Hilfsmitteln ge- 

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schehen, so daß ein Mißerfolg vielfach nicht aus- 
bleiben konnte. 

Will man das Problem ernsthaft in Angriff 
nehmen, so bedarf es im allgemeinen eines genauen 
Studiums der angeborenen Anlage in den drei 
großen Teilgebieten der empirischen Seelenlehre, 
nämlich der Individualpsychologie des normalen 
Menschen, der Psychopathologie und, wie immer 
mehr zutage kommt, auch der Kriminalpsychologie 
auf dem Boden einer methodischen Familienfor- 
schung. 

Umgekehrt erscheint für diese weitere Aufgabe 
gerade die Untersuchung der ganzen Beschaffenheit 
genialer Menschen im Hinblick auf die sonstigen 
in ihrer Blutsverwandtschaft vorhandenen Talente 
und Charaktereigenschaften als wichtiges Hilfsmittel. 
In dieser Hinsicht muß Goethe selbst, durch dessen 
geistige Beschaffenheit die Lehre vom Genie wesent- 
liche Beeinflussung erfahren hat, das größte Interesse 
erregen. 

Eine genaue Analyse von Goethes Natur mit 
den Hilfsmitteln der neueren Psychologie, soweit sie 
sich retrospektiv anwenden lassen, sowie der neueren 
Art der Familienforschung besteht meines Wissens 
trotz der außerordentlich umfangreichen Goethe- 
literatur noch nicht und kann nur allmählich durch 
systematische Behandlung einer Reihe von noch 
nicht aufgeklärten Punkten geschaffen werden. 


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Dabei ist vom Standpunkt der Familienforschung 
zunächst zu verlangen, daß die weiblichen Elemente 
in der Ascendenz, deren Anlagen erfahrungsgemäß 
den Typus des männlichen Stammes stark zu be- 
einflussen und gerade nach der genialen Seite hin 
zu entwickeln imstande sind, viel genauer behandelt 
werden, als es bisher bei dem Studium der Ver- 
erbung und des Familiencharakters zu geschehen 
pflegt. Aus einer großen Summe von Aufgaben 
möchte ich im folgenden als einen wesentlichen 
Punkt die Abstammung von Goethes Mutter, der 
Frau Rat, hervorheben, deren bedeutungsvoller Ein- 
fluß auf seine Anlage von Goethe selbst stark be- 
tont worden ist. 

„Vom Vater hab’ ich die Statur, des Lebens 
ernstes Führen, von Mütterchen die Frohnatur und 
Lust zu fabulieren.“ 

Goethe hat in dem letzteren Worte eine kurze 
Formel geprägt für eine geistige Eigenschaft, die 
in der Tat bei seinen genialen Leistungen eine 
außerordentliche Rolle gespielt hat und bei ihm 
schon in der Kindheit sehr deutlich und scharf zu- 
tage tritt, nämlich die phantastische Weiter- 
bildung von äußeren Eindrücken, die von ihm 
mit größter sinnlicher Lebhaftigkeit erfaßt 
werden. Aus einer einzelnen zufälligen Situation 
erwächst ihm eine große Menge von märchenhaften 
und phantasievollen Vorstellungen, die meist erst 


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hinterher geordnet, zum Teil ausgeschaltet, zum 
Teil ergänzt werden, bis daraus ein wohlgefügtes 
Kunstwerk entsteht. Seine Werke entspringen durch- 
aus nicht, wie die verbreitete Genielehre öfter noch 
annimmt, fertig wie die Athene aus dem Kopfe des 
Zeus, sondern sind das Resultat einer nachträglichen 
abwägenden und ordnenden geistigen Arbeit, die an 
dem mannigfachen und anfänglich oft verworrenen 
Stoffe einer blitzartig aufgetauchten Phantasiewelt 
vorgenommen wird. Dabei ist ohne diese phan- 
tastische Weiterbildung mit plastischer Deutlichkeit 
erfaßter Eindrücke seine Art von Kunstschöpfungen 
undenkbar, und wenn Goethe mit seiner obigen Be- 
hauptung recht hat, so hat er gerade diese ele- 
mentare impulsive Phantasietätigkeit von 
seiner Mutter geerbt, während der Ableitung der 
ordnenden Verstandesarbeit aus dem Stammcharak- 
ter des Vaters nichts entgegensteht. — Will man 
daher das Genie Goethes naturwissenschaftlich 
untersuchen, so wird man in erster Linie die ange- 
borene Anlage und die Abstammung der Mutter 
betrachten müssen. 

Diese letztere war eine geborene Textor, und 
gleicht ihrem Vater, dem Schultheißen Textor in 
Frankfurt, in körperlicher Beziehung, besonders in 
bezug auf die Form des Gesichtes und des Kopfes, 
in ausgeprägter Weise, wovon man sich bei der 
Betrachtung der im Goethemuseum in Frankfurt a. M. 


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vorhandenen Bilder leicht überzeugen kann. Vom 
Standpunkte der Familienforschung fragt es sich 
nun, ob die Lust zu fabulieren bei Goethes 
Mutter auf deren Vater Textor oder auf ihre Mutter 



Fig. 1. Frau Rat Goethe. 


zurückzuführen ist. Letztere Frau, d. h. also Goethes 
Großmutter mütterlicherseits, war eine geborene 
Lindheimer aus Wetzlar. — Vergleicht man das 
im Goethemuseum in Frankfurt a. M. vorhandene 
Bild dieser letzteren mit den Gesichtszügen Goethes, 


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— 8 — 

so fällt eine überraschende Ähnlichkeit des Goethe- 
kopfes in Form und Ausdruck mit dem Porträt dieser 
Frau auf. Goethe hat also morphologisch in 



Fig. 2. Frau Stadtschuttheiß Textor. 


bezug auf die Kopfbildung viel weniger Beziehung 
zu seinen beiden Eltern, als zu seiner Groß- 
mutter mütterlicher Seite. Wer sich im Zu- 
sammenhänge der methodischen Familienforschung 
mit der Frage der Ähnlichkeit bei Blutsverwandt- 


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Schaft unbefangen beschäftigt hat, wird hierin nur 
ein Beispiel einer nicht seltenen Vererbungser- 
scheinung erblicken. 

Vergleicht man nun die hervorgehobene psy- 
chische Eigen- 
schaft der Mutter 
mit dem Stammcha- 
rakter ihrer väter- 
lichen Familie Tex- 
tor, so erscheint 
die Ableitung jener 
aus dieser Stamm- 
reihe sehr unwahr- 
scheinlich, und es 
fragt sich, ob Goe- 
thes Mutter nicht 
diese Lust zu fa- 
bulieren von der 
gleichen Frau ge- 
erbt hat, welcher Fig . 3. Goethe 

Goethe seinen m 0 r- nach einem Gemälde von K ' 1 Raabe (1811) - 
phologischen Gesichtstypus verdankt. — 
Goethes Mutter hat also morphologische Eigen- 
schaften auf ihren Sohn Wolfgang übertragen, die 
sie selbst bei der Ähnlichkeit mit ihrem Vater nicht 
besessen hat; eine Erscheinung, die sich bei dem 
Studium der Vererbung von Eigenschaften sehr 
häufig aufdrängt. Jene ist also in dieser Beziehung 



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im Zusammenhänge der Vererbungsreihen lediglich 
Zwischenträgerin oder Vermittlerin einer Eigenschaft, 
die sie selbst nicht besessen hat, welche jedoch in 



Fig. 4. 

Goethe nach einem Stich von K. A. Schwerdtgeburth (1832). 

ihr als Keimanlage von seiten ihrer eigenen Mutter 
vorhanden war. 

Nimmt man nun an, daß auch die Lust zu 
fabulieren von Goethes mütterlicher Groß- 


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mutter, der geborenen Lindheimer, stammt, so 
hätte Goethe in psychologischer und morpho- 
logischer Beziehung eine sehr wesentliche Deter- 
mination aus der Familie Lindheimer empfangen. — 
In meinem Buche über „Familienforschung und Ver- 
erbungslehre“ habe ich (Seite 70) die genauere Er- 
forschung dieses Zusammenhanges als eine Aufgabe 
hingestellt, welche nicht nur für die Goetheforschung 
im speziellen Falle, sondern für die Vererbungslehre 
im allgemeinen von Bedeutung werden kann. 

Unterdessen bin ich auf diesem Wege weiter- 
gegangen und habe dabei eine Anzahl von Tat- 
sachen ermittelt, die in der mir zugänglichen Lite- 
ratur entweder gar nicht oder nur lückenhaft erwähnt 
sind. Einige Aufklärung empfing ich aus dem Buche 
von Herbst über Goethe in Wetzlar, in dem je- 
doch mehrfach Verwechselungen Vorkommen, weitere 
aus der inhaltsreichen Schrift von Heinrich Düntzer 
„Goethes Stammbäume“. Ich möchte das bisher 
Ermittelte unter dem biographischen Titel: „Goethes 
Wetzlarer Verwandtschaft“ zusammenfassen. 

Der Vater von Goethes Großmutter, der erwähn- 
ten geborenen Lindheimer, war Gerichtsprokurator 
am Reichskammergericht in Wetzlar. Eine Tochter 
dieses Dr. Lindheimer, also eine Schwester von 
Goethes Großmutter mütterlicherseits, war in erster 
Ehe mit einem Herrn Dietz zu Wetzlar verheiratet, 
in zweiter Ehe mit einem Geheimrat Lange, als 


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dessen Witwe sie zur Zeit von Goethes Aufenthalt 
in Wetzlar 1772 lebte. Ihre Wohnung befand sich 
in Wetzlar am Kornmarkt, an der Ecke der Ge- 
wandsgasse, in dem Hause, worin sich gegenwärtig 



Fig. 5. Wohnung von Frau Qeheimrat Lange. 


eine Buchhandlung befindet. Diese Wohnung liegt 
nur zirka siebzig Schritte von dem Hause in der 
vom Kornmarkte nach dem Eisenmarkte führenden 
Gewandsgasse entfernt, wo der junge Goethe in er- 
reichbarer und leicht kontrollierbarer Nähe der Groß- 


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tante untergebracht worden war. Die Lage dieser 
„Dichterwohnung“ ist im Vergleiche zu Goethes 
ausgeprägter Naturschwärmerei eine geradezu trost- 



Fig. 6. Goethes Wohnhaus. 


lose, und wäre als eigene Wahl Goethes geradezu 
unbegreiflich. Es gehört kaum eine besondere Lieb- 
haberei an schöner Natur dazu, um in dieser engen 
Gasse mit dem Ausblicke nach der ebenso engen 


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und düsteren Entengasse den lebhaftesten Trieb 
nach einem schrankenlosen Herumwandern in .der 
herrlichen Umgebung Wetzlars auch jetzt noch zu 
empfinden. Hier war das junge und impulsive 
Genie in vorsorglicher Familienaufsicht unterge- 
bracht und eingetan. 



Fig. 7. Buffs Haus. 


Wie er sich dieser Einengung als Naturschwär- 
mer entzogen hat, kann man aus den „Leiden des 
jungen Werther“ erkennen; jedoch bot ihm dieWetz- 
larer Verwandtschaft auch erfreulichere Dinge, be- 
sonders den Zugang zu einem Hause, dessen Be- 
treten für ihn von einschneidendem Einfluß in 


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menschlicher und künstlerischer Beziehung werden 
sollte. In diesem lebte die Familie des Amtmanns 
Buff, dessen eine Tochter Lotte war. Goethes Groß- 
tante, Frau Lange, hatte aus der zweiten Ehe zwei 
Töchter, die also blutsverwandte Cousinen von 
Goethes Mutter waren, wenn sie auch in bezug 



Fig. 8. Lotte-Zimmer. 


auf Lebensalter Wolfgang näher standen, und daher 
wohl ohne genauere Kenntnis des Zusammenhanges 
als Goethes Cousinen gelten konnten. (Vergleiche 
das Buch von Herbst, Seite 46 und 110.) Ein Sohn 
der Großtante Lange aus erster Ehe, Hofrat Dietz, 
war damals mit Lottes älterer Schwester Karoline 
verlobt. Durch ihn ist Goethe später tatsächlich 


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mit Lotte verwandt geworden, da Dietz ein Vetter 
seiner Mutter war, wobei Cornelius Lindheimer 
als gemeinsamer Großvater erscheint. Als Goethe 
nach Wetzlar kam, verkehrte Dietz offenbar schon 
sehr vertraut im Buffschen Hause, ebenso wie Kest- 
ner. Herbst sagt darüber (Seite 46): „Den Sohn 
erster Ehe dieser Tante (in Wirklichkeit Großtante), 
den Hofrat Dietz, fand Goethe bald auch im Buff- 
schen Hause, aus dem jener später die älteste Toch- 
ter Karoline heimführte.“ 

Bei der Fahrt nach Volpertshausen zu dem länd- 
lichen Balle, der in der Seelengeschichte von Goe- 
the-Werther eine so große Rolle gespielt hat, war 
Goethe im Wagen zusammen mit seiner „Cousine“ 
(richtiger Cousine der Mutter) Johannette Elisabeth 
Christine Lange, die er engagiert hatte, und Lotte 
Buff, die er im Amtshause selbst abholte (Herbst 
Seite 110). Offenbar war das vertraute Verhältnis 
der Familien Lange und Buff die Voraussetzung 
zu dieser Annäherung Goethes an Lotte. 

Übergehen wir diese Wirkungen seiner Wetzlarer 
Verwandtschaft und fragen wir uns im Hinblick auf 
die Vererbungslehre, ob sich bei seinen dortigen 
Blutsverwandten irgend welche für die Erklärung 
seiner Naturanlage wesentliche Züge finden lassen. 

Aus dem Buche von Heinrich Düntzer „Goethes 
Stammbäume“ ist folgendes über die Familie Lind- 
heimer zu entnehmen. 


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Seite 10: „ln Wetzlar befand sich seit längerer 
Zeit als Reichskammergerichtsprokurator und Advo- 
kat ein anderer Frankfurter von angesehener Familie, 
Cornelius Lindheimer, dessen Bruder Johann Jost, 
wie Goethes Vater, wirklicher Kaiserlicher Rat, mit 
einer Tochter des Adelsgeschlechtes v. Uffenbach 
vermählt, noch in Frankfurt wohnte. Der Schöffe 
Johann Friedrich v. Uffenbach hatte eine Lindheimer, 
vielleicht dessen Schwester, zur Frau, die 1752 starb. 

Cornelius Lindheimer war seit dem 24. August 
1697 mit der 1652 (?) im Meiningischen geborenen 
Katharina Elisabethe Juliane vermählt, einer Tochter 
des Wetzlarischen Syndikus Johann David Sei pp 
von Peffenhausen. Aus dieser Ehe stammten zwei 
Söhne, David und Georg, und fünf Töchter. Lind- 
heimer starb im Jahre 1724. Drei Jahre später führte 
Textor die dritte, am 31. Juli 1711 geborene Tochter, 
Anna Margareta, heim. Die beiden ältesten Schwe- 
stern waren nach Westerburg und Halberstadt ver- 
heiratet.“ 

Seite 16: „Zu Wetzlar hatte sich damals (d. h. 1741) 
die jüngste Schwester seiner (Textors) Gattin, Su- 
sanna Maria Cornelia, mit dem Prokurator und Ad- 
vokaten des Reichskammergerichts, Hofrat Dr. Dietz, 
vermählt. Der Sage nach soll diese einige Jahre im 
Hause Textors erzogen worden sein.“ 

Seite 13: »In dem letzteren (Jahre d. h. 1729) 
führte ein um ein Jahr jüngerer Landsmann, der nach 

Sommer, Goethes Wetzlarer Verwandtschaft. 2 


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seinen Studien und großen Reisen sich in Frankfurt 
niedergelassen hatte, die vierte Tochters Lindheimers, 
Katharina Sibylla, als Gattin heim (Johann Michael 
von Loen). 

Von den beiden Söhnen Cornelius Lindheimers 
war der eine (vgl. Dlintzer Seite 18) Offizier und 
zwar „Leutnant im sogenannten weißen Regiment, 
der damals nach Diezenbach kommandiert war“. 
Von diesem wird bei Düntzer eine psychologisch, 
in gewissem Sinne auch psychiatrisch interessante 
Geschichte berichtet, die sich in einer größeren 
Gesellschaft bei Textors abgespielt hat. „Bei den 
Scherzspielen wurde zuletzt »der ganzen Gesellschaft, 
das Frauenzimmer nacheinander zu küssen, aufge- 
geben«. Dies war fast zu Ende, als Hoffmann (Dra- 
gonerhauptmann, später der Ehemann von Textors 
jüngster Schwester) Lindheimers Frau küßte, worüber 
der Gatte in solche Wut geriet, daß er ihn schmähte, 
hinterrücks überfiel, ihm die Perücke vom Kopfe 
schlagend den Degen zog, mit dem er ihn am Kopfe 
und an der Hand verwundete; das strömende Blut 
lief ihm vom Gesicht herab: Hoffmann und andere 
hielten den Wütenden zurück.“ Der dabei mit ver- 
wundete Hofrat von Oienschlager forderte (vgl. 
Düntzer Seite 19) Satisfaktion wegen des „atten- 
tierten homicidii dolosi“, der Rat beschloß jedoch, 
„da Lindheimer nicht unter seiner lurisdiktion stehe, 
Olenschlager an dessen Landesherrn zu verweisen“. 


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„Später ward freilich ein Zeugenverhör beschlossen 
und abgehalten, aber die Sache verlief im Sande, 
da die fürstliche Regierung zu Darmstadt mit Re- 
pressalien drohte, wenn man Lindheimer im Frank- 
furtischen niederwerfe.“ 

Jedenfalls zeigt der Vorfall, der völlig aus dem 
friedlichen Rahmen der Pfänderspiele des 18. Jahr- 
hunderts herausfällt, daß dieser Bruder von Frau 
Textor sehr stark erreglich gewesen ist. In seinem 
weiteren Fortkommen hat ihn dieser Wutanfall 
offenbar nicht gehindert, wobei der Einfluß seines 
Onkels Johann Jost Lindheimer vielleicht beigetragen 
hat. Dieser hatte es (vgl. Düntzer Seite 15) „durch- 
gesetzt, daß er und seine beiden Neffen, Textors 
Schwäger, unter dem Namen von Lindheim in 
den Reichsadel erhoben werden; er selbst hatte nur 
eine in Braunschweig verheiratete Tochter.“ Es 
wäre interessant, den möglicherweise noch vor- 
handenen Adelsbrief zu kennen und vielleicht dar- 
aus zu erfahren, aus welchen Gründen diese Ver- 
setzung in den Adelsstand erfolgte. 

Im Vordergrund unseres Interesses steht Goethes 
Großmutter Textor, geborene Lindheimer. 

Es wäre wichtig, Genaueres über die geistige 
Beschaffenheit dieser Frau zu erfahren, von der 
W. Goethe offenbar manche Anlagen geerbt hat. 
Leider finde ich hierfür bisher nur eine spärliche und 
zweifelhafte Quelle, nämlich die von Düntzer an- 

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gedeuteten Äußerungen Senckenbergs über diese 
Frau. Düntzer hat sehr überzeugend nachgewiesen, 
wie wenig man Senckenbergs Äußerungen über 
die ihm verhaßte Familie Textor trauen kann, was 
bei der Bewunderung seiner großartigen Frankfurter 
Stiftung leicht vergessen wird. Mit diesem Be- 
merken kann hier Düntzers Äußerung (Seite 45) 
wiedergegeben werden: 

„So wagt es denn dieser selbstgerechte Weiber- 
feind, auch dessen (Textors) Gattin der schlimm- 
sten Verletzung ihrer Frauenehre zu zeihen“. Das 
Original von Senckenbergs Äußerungen hat mir nicht 
Vorgelegen. Es wäre angezeigt, sie vom Standpunkt 
der Psychologie der Aussage genauer zu unter- 
suchen. 

Somit kann ein Urteil über die geistigen An- 
lagen dieser Frau bisher nicht gefällt werden, es 
bleibt jedoch der bedeutende Eindruck ihres Porträts, 
besonders der Augen und der Stirn, die dem 
Gesicht ihres berühmten Enkels ganz auffallend 
gleichen. Auch Düntzer hat, wie ich nachträglich 
aus seinem Buch gesehen habe, diese Ähnlichkeit 
bemerkt und hervorgehoben: 

(Seite 55) „Ihr Bildnis zeigt eine auf- 
fallende Ähnlichkeit mit ihrem Enkel, dem 
Dichter: große, bedeutende Augen, strengen 
Herrscherblick und eine hohe, mächtige 
Stirn“. 


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Im Sinne der Vererbungslehre muß also vor 
allem die Abstammung dieser Großmutter Goethes 
genauer untersucht werden. 

Hierbei tritt die Figur seines Urgroßvaters, des 
Dr. Cornelius Lindheimer, des Vaters der Frau 
Lange und der Frau Textor, somit des Großvaters 
mütterlicherseits der Frau Rat, sehr charakteristisch 
hervor. Als Quelle hierfür fand ich in der Universi- 
tätsbibliothek in Gießen die „Geschichte der Stadt 
Wetzlar" von F. W. Freiherrn von Ulmenstein (II. 
Teil 1806, Wetzlar, Stockische Druckerei). Der Ver- 
fasser schildert im allgemeinen die Stellung der 
Prokuratoren des Reichskammergerichtes, zu denen 
Dr. Lindheimer gehörte, als ein Mittelding zwischen 
dem wesentlich aristokratischen und feudalen Stand 
der Kammergerichtsmitglieder und dem höheren 
Bürgertume der alten freien Reichsstadt, und zeigt 
die eigentümliche Lage dieses juristischen Mittel- 
standes bei den Parteiungen, die sich besonders in- 
folge von Rangstreitigkeiten am Reichkammergericht 
gebildet hatten. In dieser kritischen Zeit ist Cor- 
nelius Lindheimer in einer ganz eigenartigen Weise 
literarisch hervorgetreten. 

Im Jahre 1702 wurde, nachdem der spanische Erb- 
folgekrieg 1701 ausgebrochen war, der Reichskrieg 
gegen Frankreich beschlossen. Zum Schutz gegen 
die Franzosen, die (vgl. von Ulmenstein II, S. 352) 
aus der Kurkölnischen Residenzstadt Bonn weite 


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Streifereien unternahmen, wollte Landgraf Ernst Lud- 
wig von Darmstadt zum Schutze des Reichskammer- 
gerichtes die Stadt Wetzlar mit einer Besatzung von 
ungefähr hundert Mann versehen. 

„Die Wetzlarischen Bürger, im unaufhörlichen 
Wahne, daß man dabei die Verletzung ihrer Frei- 
heiten und Privilegien im Auge habe, sperrten an- 
fänglich diesem kleinen Heerhaufen die Stadttore, 
warfen ihn von den Stadtmauern mit Steinen und 
thaten einige nächtliche Ausfälle gegen ihn.“ Darauf 
erfolgte eine sechstägige Belagerung bis zur Auf- 
nahme der Besatzung. Dieser Vorfall war nach von 
Ulmenstein von einigen wirklich komischen Auftritten 
begleitet, „z. B., daß eine Nachtwache (Patrouille) 
der Bürger, die in der Dunkelheit ein Geräusch 
hörte, und den Geräuschmacher für einen Darm- 
städtischen Soldaten, der spionieren wollte, hielt, 
einen dem Müller am Häusertore entwischten Esel, 
da sie auf die Frage: Wer da? keine Antwort er- 
hielt, erschoß, usw“. 

„Dieser und einige ähnliche lächerliche Auftritte 
reizten einige Wetzlarische Witzlinge zur Satire. 

Von diesem Hauche beseelt, verfaßten sie ein 
Tagebuch, welches eine umständliche drollige Be- 
schreibung dieser komischen Szenen enthielt, und 
zeichneten Abbildungen dazu, wovon sie in Mainz 
Holzschnitte machen lassen wollten. Ehe aber noch 
dieser Entwurf ausgeführt werden konnte, wurde er 


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entdeckt und vereitelt. Mit dem Entwürfe entdeckte 
man auch seine Urheber. 

Gewiß ist es, daß der Kammergerichtsprokurator 
Dr. Johann Philipp von Pulian und der Kammer- 
gerichtsprokurator Dr. Cornelius Lindheimer zu 
diesen Witzlingen gehörten.“ 

Diese Schrift, welche sich an eine Reihe von 
anderen satirischen Schriften anschloß, durch welche 
Mitglieder des Reichskammergerichtes getroffen 
waren, hat für die Verfasser sehr unangenehme 
Wirkungen gehabt. Der Führer der einen Kammer- 
gerichtspartei, Freiherr von Ingelheim, stellte nach von 
Ulmenstein (II, Seite 364) „den Inhalt des Tagebuches 
dem Landgrafen Ernst Ludwig von Hessen-Darm- 
stadt bei einer Zusammenkunft auf der Jagd in 
einem so nachteiligen Lichte dar, daß dieser Fürst 
sich und seine Kriegsmannschaft dadurch beleidigt 
hielt und beim Reichskammergericht auf eine Unter- 
suchung und eine Genugtuung der ihm dadurch 
zugefügten Beleidigung drang. 

Dieses Verlangen gab dem Freiherrn von Ingel- 
heim und seinen Anhängern in einer am 2. Januar 
1703 gehaltenen vollen Ratssitzung den Anlaß, eine 
sehr strenge Untersuchung gegen den Dr. von Pulian 
und seine Mitschuldigen bei der Verfassung des 
Tagebuches zu verhängen, die Pulianischen Akten, 
Briefschaften und alle übrigen Papiere zu ver- 
siegeln usw.“ Diesem hochnotpeinlichen Verfahren 


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haben wir es offenbar zu verdanken, daß das Tage- 
buch, dessen Mitverfasser einer von Goethes Vor- 
fahren war, erhalten worden ist. Bevor wir auf 
den Inhalt desselben eingehen, gebe ich noch eine 
Notiz über den weiteren Verlauf der für die Ver- 
fasser nicht ungefährlichen Sache. Nach von Ulmen- 
stein (Seite 366) gelang es einigen einflußreichen 
Namen, „dem Landgrafen Ernst Ludwig den Zweck 
des Tagebuches aus einem anderen Gesichtspunkte 
zu zeigen, und ihn zu überführen, daß die Verfasser 
die Absicht einer Beleidigung seiner Kriegsmann- 
schaft nicht gehabt hätten“. Dies ist offenbar richtig, 
andererseits ist dieses Tagebuch im Grunde eine 
geradezu köstliche Satire auf die ganzen Zeitver- 
hältnisse, besonders die Eifersüchtelei zwischen der 
freien Reichsstadt und den aufstrebenden Territorial- 
gewalten. 

Der bei von Ulmenstein im Anhang zum III. Bande 
abgedruckte Text lautet: 

„Diarium obsidionis Wetzlariensis.“ 

„Es ist reichskundig, daß, nachdem die glück- 
liche Eroberung der Stadt und Festung Landau aller 
Orten im Reich erschollen, mithin bei allen ehr- 
liebenden teutschen Patrioten eine unbeschreibliche 
Freude erwecket worden, fast zu gleicher Zeit ein 
hinkender Bot nachgekommen, so die Überrumpe- 
lung der Reichsstadt Ulm mitgebracht, und diese 
Freude bey jedermann ziemlichermaßen wieder ver- 


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störet hat. Dieses Stragema erweckte bey den weit 
aussehenden Politicis ein großes Nachdenken, ob 
nicht etwa eine Fatalität über die Reichsstädte ver- 
hängt sei und dermalen ausbrechen möchte. Dieser 
Soup^on fassete auch die Stadt Wetzlar, wo itzo der 
kaiserl. Kammergerichts-Wohnsitz ist, occasione, 
daß zu der Zeit, als den 13. Sept. 1702, einige 
Hundert Mann Hessen - Darmstädtische Landmiliz, 
unter Kommando eines Majors und anderer Offiziere 
vor diese gute Stadt ruckten, welche dieselbe vor 
den in der Nachbarschaft herumschwärmenden 
feindlichen Parteien zu schützen, vor eine gewisse 
Anzahl Mannschaft Einquartierung verlangte. 

Gleichwie aber einige in die staats-vernünftige 
Gedanken verfielen, daß es denselben nicht so sehr 
um die Stadt zu beschützen, als sie etwa um die 
reichsbürgerliche Freiheiten zu bringen, zu thun 
wäre, also hätten sich Herrn Bürgermeister, Rath 
und gemeine Bürgerschaft, wie ein Mann zusammen 
verbunden, viel lieber Gut und Blut aufzuopfern, 
als sich diesem Hessischen Landausschuß, als vor- 
nehme Reichsbürger und ein konsiderabeler Reichs- 
stand des Reichs so schlechter Weise zu ergeben. 
Es wurden derohalben sogleich alle Pforten ver- 
schlossen und die Posten rings um die Stadt mit 
nöthiger Mannschaft besetzt. Wie nun dem hessi- 
schen Major also der Eingang benommen wurde, 
zerteilte er seyne Milize in zwey Theil, davon er 


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den einen Theil vor das sogenannte Haußer Thor 
lagerte. Er selbst aber mit dem größten Theil po- 
stierte sich vor dem Oberthor, und lies niemand 
weder aus noch in die Stadt, wie dann binnen der 
Stadt gleichfalls solche Anstalt gemacht wurde, daß 
keinem fremden Menschen, um allen Spionierereyen 
vorzukommen, ja sogar nicht einmal den zur kaiser- 
lich. Kammer gehörigen Boten, Praktikanten und 
Sollizitanten, auf eine Mauer oder irgend einen 
mit Reichsbürgern besetzten Posten zu gehen, 
und sich umzuschauen verstattet, auch manchem 
deswegen der Vorwitz mit einer guten Tracht 
Seitenstöße und anderen unfreundlichen Traktamen- 
ten vertrieben worden. 

Donnerstag, den 14. Sept. geriet es das erstemal 
zur wirklichen Hostilität, nachdem die vor dem Hau- 
ßer-Thor postierte Truppen Morgends frühe zwischen 
4 und 5 Uhr unter favor eines dicken Nebels bis 
an die äußerste Pforte des Stadtthors anrückten, 
und darfnn in kurzer Zeit mit Axen und Beilen 
ein Loch haueten, auch sich gewiß sowohl des in- 
neren als äußeren Thors bemächtigtet haben würden, 
wenn nicht alsobald die hierzu kommandierte Bür- 
ger und junge Mannschaft bewaffneter Hand sich 
mit den bereits auf der Mauer logierten Feinden in 
eine solche Haar-Kollation eingelassen hätten, daß 
diese mit Verlust zweyer Musqueten sich zu retiri- 
ren wären gezwungen worden. Diese so männlich 


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27 


gethane und glücklich gelungene Gegenwehr nun 
encouragirte die Belagerten dermaßen, daß keiner, 
der auf einem Posten gestanden, nicht gewünschet, 
eben das Glück zu haben, mit dem Feinde in ein 
solches Kombat zu gerathen; und weil es schien, 
daß dieBelagerer mit solchemFrühstück nicht zufrieden 
seyn, sondern ihren abandonierten Posten mit Ge- 
walt behaupten wollten, als würde ein Ausfall resol- 
virt, und deswegen unter die freiwillig sich an- 
bietende, um denselben ein Herz und Kourage 
einzugießen, etliche Flaschen mit Brandenwein und 
Körbe mit Wecken ausgetheilet, die Stunde aber um 
9 vormittags dazu determiniret. 

Allein nicht sowohl die Hitze des Brandenweins, 
als vielmehr die Liebe des gemeinen Besten und 
Bestreitung der Reichsbürgerlichen Freyheiten ent- 
brante dergestalt ihre Herzen, daß man die be- 
stimmte Zeit nicht abwarten konnte, sondern es 
rückte gleichsam ein ganzes Heer hinaus, mit Waffen, 
deren ein jeglicher in seiner täglichen Oekonomie ge- 
wohnt war, attaquirten ohn Versehens den Feind, und 
scharmutzierten tapfer mit demselben herum. Han- 
nes Oehler, wie man sagte, kriegte den Korporal, 
einen hauptbraven und mannvesten Kerl bei der 
Karthaus, und Schwung ihn rechtschaffen ab; Seip, der 
Metzger, lief auch voran, fragte immer: wo bleiben 
dann unsere Offiziers? Endlich kam alles nach, 
und mußten also die Belagerer das Feld räumen. 


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28 


Ja! es ist nicht ein einziger, der zum Ausfall 
kommandirt gewesen, der es hätte an sich kommen 
lassen, daß er die wenigem Schläge ausgetheilet, 
ob er gleich auch seinen Part davongetragen. 

Wie nun der Feind so heldenmütig in die Flucht 
geschlagen und verfolgt worden, als entstund hier- 
auf, wie leicht zu gedenken, eine so ungemeine 
Freude, daß es wenig gefehlet, man hätte das Te 
Deum intoniren, ja die alte Weiber gar ihre Feuer- 
Mörsel, Karren-Büchsen und Stick-Potte abdonnern 
lassen. Man nahm aber vor diesmal mit der Ehren 
und eroberten Sieges-Zeichen, als obigen zwey 
Musqueten und einem Bandelier, vorlieb, und reti- 
rirte sich ein jeder wieder nach Haus oder an sei- 
nen angewiesenen Posten. 

In der Nacht aber, um die gewöhnliche Stunde, 
da der kommandierende Offizier die Ronde pflegte 
zu gehen, entstund gählings an einem Posten ein 
großer und sehr gefährlicher Allarm. Es war nem- 
lich einem Müller ein Esel aus dem Stall entloffen; 
dieses arme Thier, wiewohl , es sonst mehrmals bey 
der Nacht in der Stadt herumzuwandern, und das 
Schrot- Malz nach der Mühle abzuholen gewohnt 
war, wurde wegen des stetigen Anrufens, wer da? 
und des hier und dort Patroullierens der Wache 
mit feurigen Lunten, in die größte Ängste und end- 
lich gar in die Irre getrieben; weswegen dasselbe 
bis hinter die Stadtmauer sich retirirte. Eine Schild- 


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wacht, so von weitem diesen Patroullanten hörte, 
schrie an, wer da? Kaum als der Esel näher her- 
beikam, und die Schildwache Allarm machte, war 
schon eine ganze Rotte Bürger da, darüber der 
eine dies, der andere jenes raisonnirte, die meisten 
aber dafürhielten, daß es der kommandirende Offi- 
zier, so die Ronde ging, seyn müsse und nur dar- 
um so still daher geschlichen käme, damit er sehen 
mögte, ob die Wache schliefe oder nicht; deswegen 
sie nun gesammter Hand darauf losgingen und die 
Parole haben wollten. 

Weil aber dieser Unschuldige sich voller Schrek- 
ken befindende Esel kein Wort antwortete, meinten 
sie nicht anders, dann es müsse ein Spion seyn, ga- 
ben deswegen Feuer und entseelten das arme Thier, 
daß dasselbe sogleich sich todt dahin streckte. 
Gleichwohl weil es Kriegsraison gemäs, einen sol- 
chen, der auf dreimal wiederholtes Anrufen keine 
Antwort gibt, zu tödten; also wurde daher auch der 
Thäter, des anderen Tages von des Müllers ange- 
stellter Klage völlig absolviert; compensatis ex- 
pensis. 

Freytags den 15ten bekamen die Belagerer einen 
starken Renfort von den Roth-Röcken, welche gleich 
jenseits des Wassers, vor dem Länggässer Thor 
Posten fasseten, und mithin auch die Stadt enger 
einschlossen und blokirten. Diese neu angekom- 
mene Leute wollten nun auch ihre Bravour er- 


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weisen, approchirten deswegen in folgender Nacht 
bis an das Stadtthor, und vermeinten dasselbe durch 
Hülfe der finsteren Nacht und dicken Nebels mit 
List in der Geschwinde zu überrumpeln. Aber sie 
fanden die Belagerten ganz allert, so daß sie auch 
hier wieder abziehen musten; denn der komman- 
dierende Offizier in der Stadt stellte erstlich seinen 
Untergebenen die große Gefahr vor, worinn sie 
schwebten, und demnächst sprach er ihnen ein Herz 
zu, und ermahnte sie zur ritterlichen Gegenwehr, 
mit diesen nachdrücklichen Worten: nun ihr lieben 
Bürger und Mitbrüder! haltet euch wohl, und streitet 
vor das gemeine Vaterland und euere Freiheit und 
Privilegia. Jetzt gilts oder nimmermehr; drum 
schlagt an, wann sie anschlagen, und gebt Feuer, 
wann sie geschossen haben, sonst könnte ein großes 
Herzeleid daraus entstehen. Es fragte hierauf einer: 
aber wie sollen wirs dann gemachen? wir können 
ja, weil es finster Nacht und Nebel ist, nicht sehen, 
wann sie draußen anschlagen. Der Fähndrich rekol- 
ligirte sich hierauf und sagte: Es ist auch wahr, 
drum, wann sie Courage hätten, so kämen sie bey 
Tag, daß man sie sehen könnte. Noch entstund 
auf einem andern Posten ein neuer gleichfalls ge- 
fährlicher Allarm; nemlich frühe morgens in der 
Dämmerung däuchtete ihrer zwey auf der Stadt- 
mauer stehenden Schildwachen, sie sähen einen 
Hessischen Soldaten ganz nahe an der Mauer stehen; 


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ohnzweifentlich, daß er alles hören und auskund- 
schaften mögte, was darinn vorging. Deswegen 
resolvirten sie sich, Feuer auf ihn zu geben und 
ihn als einen Verräter zu tödten. Der erste schoß 
und meinte, er hätte ihn übern Haufen geschossen. 
Der andere disputirte mit ihm, und wollte es nicht 
gelten lassen; er sehe ihn ja noch da stehen; schlug 
deswegen auch an. Es ging aber zu allem Glück 
die Büchse nicht los. Wie sie nun also sich wie- 
der mit einander zankten, und einer den andern 
auslachte, brach unterdessen der liebe Tag an, da 
dann der letztere, dem die Büchse versagte, herz- 
lich anfing zu lachen; 0, sind wir nicht zwei Stock- 
fische! wie bin ich doch jetztund so froh, daß ich 
nicht geschossen habe, wie du! Siehest du nicht 
den großen Stein, den wir für einen Spion ange- 
sehen haben? 

Samstags den 16ten passierte nichts sonderliches, 
als daß man aller Orten sonderlich inwendig der 
Stadt auf guter Hut stund und auf die etwaige in 
der Stadt befindliche Spionen scharfe Inquisition 
hielt; denn man konnte leicht urtheilen, daß, weil 
der Feind nach so vielen schweren Niederlagen, den- 
noch die Belagerung und die Blokade nicht auf- 
heben wollte, man eine heimliche Intelligenz mit 
einigen in der Stadt haben müsse. Dieses bezeigte 
sich demnach also: denn erstlich begab sichs, daß 
Dr. Hofmann die Auslassung seines Knechts mit 


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einem Pferd, um denselben nach Braunfels zu ver- 
schicken, begehrte; welches er endlich, wiewohl mit 
großer Mühe erhielt. Dieser aber, sobald er vor 
das Thor kam, wendete er sich und ritt gerades 
Weges dem Lager zu, und überreichte dem Hessi- 
schen Major ein verschlossenes Schreiben, worinn 
er zwar seinem Vorgeben nach, um Verschonung 
seines Gartens geschrieben haben solle; aber von 
den Belagerten keineswegs geglaubt, sondern für 
eine Verrätherey gehalten werden wollte ; deswegen 
die häufig auf der Mauer versammelten Bürger mit 
Fingern auf den Verräther gedeutet, und mit lauter 
Stimme: Du Spion, du Verräther! ihm zugerufen 
haben. Notarii Kirschbaum größester Bub machte sich 
aus Einfalt an das Silberthor zu den allda in Be- 
reitschaft liegenden Bürgern, praktizirte sich hernach 
durch das kleine Thürgen hinaus, ging zu dem Feind 
über und verkundschaftete ihm alles, was er gehört 
hatte; zeigte ihm auch, wo sie die Stadt am besten 
angreifen, und sich ihr bemeistern könnten, und zwar 
mit solcher kindischen Unvorsichtigkeit, daß es jeder- 
mann sehen und ihre Discourse hören könnte; ver- 
meinte demnach, quasi re bene gesta, cum bona 
pace, wieder also in die Stadt zu schleichen, aber 
es wurde ihm das Wams geledert, und der Lohn 
dergestalt auf den Buckel bezahlt, daß wenn nicht 
seine Mutter herbeygekommen , er zu einem Brey 
geschlagen worden wäre. Die Nacht hindurch war 


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es still, wie auch Sonntags früh den 17ten. Bis 
nach allerseits verrichtetem Gottesdienst wurden 
keine Hostilitäten verübet. Als nun das Lager durch 
einen abermaligen neu angekommenen Renfort pro- 
longiert und mithin bis an das Silber Thor exten- 
dirt worden, und also die Stadt von Tag zu Tag 
mehr eingesperrt wurde und nur noch ein einziges 
Thor unberennt offen war; indessen man aber mit 
Jammer ansehen mußte, wie das Vieh den armen 
Leuten auf dem Leib lag und fast verschmachten 
mußte, als resolvirten einige, das Ihrige auf die 
zwischen den beiden Wassern der Brücke gelegene 
Insul auf die Weide zu treiben. Vorher aber wurden 
etliche Volontaers durch das Wasser zum Recog- 
nosciren ausgeschickt. Die Belagerer wurden dieses 
Streiches gewahr; der Major setzte sich zu Pferd, 
nahm ein Corps von etlichen und 20 Mann Füsiliers 
mit sich, bediente sich des Durchgangs durchs 
Wasser, postirte sich in einem Augenblick auf der 
Insul, und trieb das Vieh in der größten Confusion 
nach der Stadt zu ; Aber es währte nicht lang, und 
hatte er kaum bey einem Bäumlein eine Schildwache 
aufgestellt, als alles, was nur laufen konnte, hinaus- 
lief, und den avancirten Feind umzubringen suchte; 
Sonderlich legte die neue aufgerichtete Compagnie 
junger Mannschaft damals die erste Probe ihrer 
Tapferkeit ab; es stießen auch noch viele andere 
resolute Bürger dazu, daß man vor deren Menge 

Sommer, Goethes Wetzlarer Verwandtschaft. 3 


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in einem Augenblick jene nicht mehr sehen konnte. 
Der Major wurde demnach genötiget, sich so gut 
er konnte, zu wehren, ließ die Bajonnetten in die 
Flinten stecken, und Plotons machen. Die Bürger 
und freie Compagnie thaten desgleichen, doch 
ohne Ordre, weil sie nicht in Reihen und Gliedern 
rangirt, sondern klumpenweis zufielen. Ja! der Ma- 
jor rufte endlich den Seinigen zu: sie sollten an- 
schlagen auf den halben Mann. Der Stadtlieutenant 
rufte hinwiederum den Seinigen zu : So schlaget ihr 
an auf den ganzen Mann. Wie man nun also bey- 
nahe eine halbe Viertelstunde das Weisse in den 
Augen gesehen, indessen des Majors Pferd mit 
flachen Degen und mit Mistgabelstreichen wacker 
zum Tanz aufgemuntert wurde, konnte dasselbe 
dieses Aufspielen länger nicht aushalten, schlug dem- 
nach hinter sich auf einen Kisselstein und sprengte 
denselben dem Jost Waldschmidt, einem vornehmen 
Metzger, so ohnlängst sein klein Häusgen bei der 
Kammer abgebrochen, und einen schönen großen 
Bau dahin setzen lassen, als er mit der Mistgabel 
darauf schlagen wollte, aufs Aug, daß man ihn blind 
zu seyn vermeinte, worauf sich die Schlacht doch ohne 
Blutvergießung geendiget, die Belagerer in guter Ord- 
nung sich zurückgezogen, und der Blessirte nach dem 
Feldscheerer convojiret worden. Als nun der Major 
also pas ä pas mit geschlossenen Reih und Gliedern 
fortrückte, und fast bis an die Spitze der Insul, 


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wo er übergesetzet hatte, kam, avancirte ein neues 
Corps von mehr als 50 Mann ihm zu Hülfe, passierten 
gleichfalls mit großer Herzhaftigkeit den Strom, con- 
jungirten und setzten sich also wieder von Neuem. 
Allein viele von denjenigen, so vorhin nachgeloffen, 
kehrten wieder um, theils weil es ihnen nicht rat- 
sam zu sein däuchte, sich mit dem Feinde so weit 
vor der Stadt zu engagiren, theils weil es nach 
dessen erhaltenem starken Renfort leicht gefährlich ab- 
laufen, ihnen die Retirade nach der Stadt abgeschnitten 
werden, ja! in Betrachtung, daß der meiste Theil 
der Bürger sich allhier auf der Insul befinde, dahin- 
gegen die übrigen Posten und Thore der Stadt- 
mauer schlecht besetzt wären, der Feind leicht an 
einem andern Orte ansetzen und sich dessen be- 
meistern könnte. Endlich verließ doch der Major 
die Insul als einen unhaltbaren Posten, zog sich 
durchs Wasser wieder zurück, und rückte in 
sein voriges Lager ein ; worauf die Belagerten 
nachgehends an der Spitze der Insul, um dem 
Feind das fernere Übersetzen zu disputiren, Schild- 
wachen ausgesetzt haben. Unterdessen war jeder- 
mann curios, wie doch endlich diese Belagerung 
noch ablaufen mögte, und geschahen in und außer 
der Stadt viele Wettungen, daß der Ort mit Sturm, 
von anderen, daß er per Akkord übergehen, von 
verschiedenen aber, daß die Belagerer noch gar 
davon abziehen würden; daß sicherste aber wäre 

3 * 


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die Zurückkunft der nun zum zweiten Mal nach 
Darmstadt abgeschickten Gesandtschaft, so in da- 
sigem Sonnenwirt bestanden, abzuwarten, welcher 
der Sache den Ausschlag geben würde. Indessen 
schickten sich einige zu einer langwierigen Be- 
lagerung, besonders diejenigen, so bey solchem 
Zufall mehr Nutzen als Schaden zu erwarten hatten, 
andere aber sagten rund heraus, sie wollten folgen- 
den Tags die Thore aufmachen und ihren Feind bey 
offenen Thoren erwarten. Wie aber die Zurück- 
kunft der Gesandten sich bis in die späte Nacht 
verzögerte, entstund unterdessen zwischen 8 und 9 
Uhr der allergrößeste und gefährlichste Allarm 
während der ganzen Belagerung, dann man hatte 
abends wahr genommen, daß die Rotröcke vor 
dem Langgässer Thor viele Faschienen, die sie 
aber des Nachts, die Lagerfeuer zu machen, 
um sich dabei zu wärmen , zusammengetragen 
gemacht. Nun Sprung von ungefähr ein Fisch 
im Wassergraben auf. Die Schildwache, die nicht 
anders meinte, dann daß der Feind approchiren 
und mit den Faschienen den Graben anfüllen 
wollte, machte sogleich Lärm, darauf gieng es bunt 
über Eck, und lief, was nur laufen konnte mit 
Spiessen und mit Stangen, die Weiber mit Ofen- 
und mit Mistgabeln, heissem Wasser, Hirschenbrey 
und dergleichen, und waren nicht anders als reissende 
Löwen und Bären, die von den Ketten gekommen, 


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und alles ermorden und umbringen wollten. Als 
nun der Lermen eine gute halbe Stunde gedauert, 
und man endlich durch noch einen andern Fisch 
den Irrtum wahr genommen hatte, war man zwar 
grausam auf den Feind erbittert, man konnte sich 
aber doch wieder getrösten, daß es noch so gnädig- 
lich abgelaufen, und dieses vielleicht ein Warnungs- 
zeichen gewesen sey. Ja, es sagte einer frey her- 
aus, es wäre gut, daß dieser Lärm geschehen, dann 
so hörten sie draußen, daß wir vigilant seyen. Und 
gewißlich die öfters sonderlich bey nächtlicher 
Weile tentirten feindlichen Anfälle und Stratage- 
mata machten den Belagerten endlich so leise Ohren, 
daß kaum ein Blatt rauschen durfte, daß nicht von 
allen Orten das Feldgeschrey sich hören ließ; daher 
denn auch das Unglück tn dieser Nacht einen 
Maurergesellen, der ein Tiroler, betroffen, welcher, 
da er um die Mitternacht aus der Corps de Garde 
sich an der Stadtmauer an einem Ort, um sich seiner 
Leibesbürde zu entbinden, niedergelassen, und sich 
mit Kunz Unflat etwas hart räusperte, von der Schild- 
wache angerufen ward: Wer da? Worauf er zwar 
auf gut Tirolisch die Antwort gegeben: ly, ich! Wie 
aber die Schildwache ferner gerufen: Was machst 
Du? Da antwortete er in seiner Muttersprache: 
Ich scheuß. Dies verstund die Schildwache nach 
dem Wetzlarischen Dialekte, und meynte, er wolle 
schießen, macht deswegen Lärm, und gleich kam 


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die ganze Wache mit dem Gewehr herbei, nahm 
den guten Schlucker in Arrest, und wiewohl er sie 
damit abspeisen wollte: Er hätte ja nicht schießen 
wollen, sondern gesagt, er scheiße; so wurde doch 
dieses Einwenden für unerheblich geachtet, und er 
deswegen Morgens früh vor den Herrn Bürger- 
meister geführt, welcher ihn dann um eine Maas 
Brandewein, zugleich auch seinen Meister, der nur 
um eine gnädige Moderation gebeten hatte, auch 
um eine Maß Brandewein gestrafet, welcher Brande- 
wein hernach der Wach dergestalt zur Rekreation 
und zum Frühstück gedienet, daher sie bei diesem 
Posten nicht eher von der inmittelst erfolgten Ka- 
pitulation etwas gewahr geworden, bis der Einzug 
der Hessischen Truppen wirklich geschehen; wo- 
mit es dann, mit wenigem zu berühren, folgender- 
gestalt zugegangen: Nemlich nachdem die Ehren- 
gesandtschaft von Darmstadt zurückgekommen, und 
man den Mißverstand reiflich erwogen, ist endlich 
Montags den 18ten zur Kapitulation geschritten und 
der Hessische Major und Kapitän hereingelassen 
worden; worauf sie dann nur für 125 Mann das Obdach 
kapitulirt, demnächst die Zunfthäuser, wo die neuen 
Gäste einlogirt werden sollten, besichtiget, sofort 
die Hessische Mannschaft noch selbigen Abend ein- 
gerückt, die übrige vor der Stadt befindliche Miliz 
aber sich in die nächsten Dörfer zurückgezogen 
und damit auch aller Lärm und Tumult in der 


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Stadt gestillt worden. Gleichwohl sind alle Thore 
und Posten von den Bürgern besetzt geblieben. 
Auch wird die freie Compagnie junger Bursche 
noch wöchentlich zweymal in armis exerzirt, und 
versehen die Auxiliäres keine Wachen. Wie es 
nun weiter ergehen wird, lehret die Zeit. “ 

In dieser Satire auf ein geschichtliches Ereignis 
treten eine Anzahl von psychischen Zügen sehr 
scharf hervor, nämlich 

1. eine große Deutlichkeit der optischen Vorstel- 
lungen, 

2. eine phantastische Weiterbildung wirklicher Zü- 
ge, die man als Konfabulation bezeichnen kann, 

3. eine Freude am Grotesken und Drastischen, 

4. unter scherzhafter Form eine sehr ernsthafte 
Betrachtung kulturgeschichtlicher Verhältnisse, 

5. in eigentümlichem Gegensatz zu dem komischen 
Inhalt ein rationalistisch pedantischer Stil, der 
zum Teil eine Nachahmung der reichsgericht- 
lichen Schreibart darstellt. 

Wir erkennen hier eine Reihe von Erscheinungen, 
die in ganz ähnlicher Weise bei Wolfgang Goethe 
erkennbar sind. Die außerordentliche Klarheit der 
optischen Vorstellungen spielt in seinem ganzen 
Kunstschaffen eine sehr bedeutende Rolle. Es tritt 
dies ebenso in seinen poetischen wie in den Prosa- 
werken hervor, besonders klar z. B. in den Briefen 


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von der italienischen Reise, während derer Goethe 
im einfachen Anschauen und in der Darstellung op- 
tischer Eindrücke geradezu geschwelgt hat. 

Über dieser optischen Grundanlage hat man bei 
Goethe die oben an zweiter Stelle genannte Eigen- 
schaft öfter vergessen. Sie tritt nicht nur in seiner 
Jugend sehr deutlich hervor, sondern läßt sich auch 
in einer großen Reihe seiner Werke als das wesent- 
lich Künstlerische klar erkennen. Er selbst hat die 
Lust zu fabulieren, als eine seiner Haupteigenschaften, 
und zwar als Erbteil von seiten seiner Mutter, her- 
vorgehoben. Die große Tragweite dieser Eigen- 
schaft hat Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ zum 
Ausdruck gebracht, wenn er dort über die von ihm in 
der Knabenzeit erfundenen Märchen (im zweiten 
Buche des ersten Teiles) folgendes sagt: „Und wenn 
ich nicht nach und nach, meinem Naturell gemäß, 
diese Luftgestalten und Windbeuteleien zu kunst- 
mäßigen Darstellungen hätte verarbeiten lernen, so 
wären solche aufschneiderische Anfänge gewiß nicht 
ohne schlimme Folgen für mich geblieben.“ 

„Betrachtet man diesen Trieb recht genau, so 
möchte man in ihm diejenige Anmaßung erkennen, 
womit der Dichter selbst das Unwahrscheinlichste 
gebieterisch ausspricht, und von einem jeden fordert, 
er solle dasjenige für wirklich erkennen, was ihm, 
dem Erfinder, auf irgend eine Weise als wahr er- 
scheinen konnte“. Es folgt in diesem Zusammen- 


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hange bei Goethe das Knabenmärchen „Der neue 
Paris“. Goethe hat hier selbst die Bedeutung des 
Fabulierens in allgemein psychologischer und 
künstlerischer Richtung hervorgehoben. 

Auch der dritte der obengenannten Züge, näm- 
lich die Neigung zum Grotesken, tritt in seinen 
Werken, besonders im Faust, sehr deutlich zutage; 
die Pudelszene, die Hexenküche, die Walpurgisnacht 
im ersten Teil, das phantastische Treiben am Hofe 
des Kaisers im zweiten Teil bilden ausgezeichnete 
Beispiele für diese Art der poetischen Vorstellung, 
die sich auch in anderen Werken bei ihm nach- 
weisen läßt. Allerdings liegt hier nicht ein so herr- 
schender Grundzug vor, wie ihn die Klarheit der 
optischen Vorstellungen bildet, immerhin aber ein 
charakteristisches Merkmal der Anlage, das seine 
Persönlichkeit von anderen Künstlern unterscheidet, 
wenn es auch nicht in jedem seiner Werke zum 
Vorschein kommt. 

Die vierte der genannten Eigenschaften, nämlich 
das Verständnis für kulturgeschichtliche Zustände 
und ihre Entwicklung, hat Goethe in hervorragen- 
dem Maße in seinen Werken zum Ausdruck ge- 
bracht. Gerade das Reichskammergericht in Wetzlar, 
dessen Beschaffenheit er nur aus einer mehrmona- 
tigen Anwesenheit in dieser Stadt kannte, hat 
Goethe in„ Dichtung und Wahrheit“ in mustergültiger 
Weise vom kulturgeschichtlichen Standpunkt dar- 


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gestellt. Seine Werke sind voll von einzelnen 
kulturgeschichtlichen Bemerkungen und zusammen- 
hängenden Ausführungen dieser Art: Wilhelm Mei- 
ster in seiner Gesamtheit ist im wesentlichen aus 
dieser Eigenschaft Goethes zu verstehen , wobei 
allerdings auch der ganze sonstige Reichtum seiner 
Naturanlage in Kraft tritt. 

Sehr merkwürdig ist es, daß auch der fünfte der 
genannten Züge bei Goethe in ganz ähnlicher Weise 
hervortritt. Die eigenartige Wirkung seiner Prosa- 
kunstwerke beruht nicht zum mindesten darauf, daß 
oft Vorgänge und Gefühlszustände, die ganz über 
das Maß des Gewöhnlichen hinausgehen, in einer 
ruhigen, gemessenen, berichtenden, manchmal ge- 
radezu trockenen und verstandesmäßigen Weise vor- 
getragen werden. Ich empfinde in diesem eigen- 
artigen Gegensatz zwischen einem lebhaft bewegten 
Inhalt und der einfachen Sachlichkeit der Darstel- 
lung, besonders beim Vorlesen, den eigentlichen 
Charakter des Goetheschen Stiles. 

Rechnet man in jener Schrift das satirische 
Moment der Nachahmung reichsgerichtlicher Schreib- 
weise ab, so bleibt eine klare, logisch geordnete 
Stilart, die durch ihren Widerspruch zu dem komi- 
schen Inhalt im Grunde ganz ähnlich wirkt, wie 
viele Stellen aus Goethes Schriften. 

Faßt man die Tatsache ins Auge, daß sämtliche 
hervorgehobenen Eigentümlichkeiten in Goethes 


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Persönlichkeit und Schriften sich wiedererkennen 
lassen, bedenkt man, daß der Mitverfasser jenes sati- 
rischen Werkes, der Prokurator Lindheimer, ein 
Vorfahre von Goethes Mutter ist, auf die Goethe 
mit Recht seine Lust zu fabulieren zurückführt, 
so liegt der Schluß nahe, daß Goethe durch Ver- 
erbung von seiner Mutter in seiner Anlage zu die- 
sem Großvater der Mutter in einer sehr engen 
stammesgeschichtlichen Beziehung steht. Diese Auf- 
fassung wird gestützt durch die Tatsache, daß Goe- 
the morphologisch der Tochter jenes Mannes, d. h. 
seiner Großmutter mütterlicherseits (der Frau Textor), 
auffallend ähnlich sieht. 

Nimmt man zu dem von Dr. Lindheimer stam- 
menden Komplex von Eigenschaften noch die ratio- 
nalen Züge des Vaters Goethe, sowie dessen aus- 
geprägten Sammeltrieb, so entsteht eine Gruppierung 
von Eigenschaften, aus der sich die synthetisch ent- 
standene Persönlichkeit Goethes schon eher be- 
greifen läßt, als aus dem Stammbaum der Familien 
Goethe und Textor, deren Beschaffenheit viel mehr die 
Entstehung eines tätigen Bürgers und geschäftstüch- 
tigen Mannes, vielleicht auch eines Gelehrten, als die 
eines genialen Künstlers erklärlich machen könnte. 

Daß auch die ebengenannten Eigenschaften in 
Goethe vorhanden waren, hat er in seiner Tätigkeit 
als Minister in Weimar viel mehr erwiesen, als viele 
seiner Bewunderer wissen. 


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Jedenfalls sind gerade für das psychologische 
Verständnis seiner künstlerischen Eigenschaften die 
aus der Familie Lindheimer stammenden Anlagen 
von sehr wesentlicher Bedeutung. 

Ist diese Auffassung richtig, so hätten wir zu- 
gleich eine Vermutung über das Erlöschen dieser 
eigentlich genialen Eigenschaft des künstlerischen 
Fabulierens bei Goethes Nachkommenschaft. Jene 
erscheint als letzter Ausläufer einer Anlage, die, 
von einem männlichen Stamme ausgehend, durch 
Vermittlung der Tochter, Frau Textor, und Enkelin, 
Frau Rath, in die Familie Goethe hineingetragen 
worden ist, um nach einem letzten, heftigen Auf- 
flammen zu verlöschen. 

Jedenfalls darf nicht der Name eines bedeuten- 
den Mannes ohne weiteres dazu führen, daß der 
wesentliche Kern seiner Eigenschaften in der väter- 
lichen Familie gesucht wird. Die Mutter spielt als 
Vermittlerin von Eigenschaften, die sie selbst zum 
Teil nicht zu besitzen braucht, eine viel größere 
Rolle, als ihr im allgemeinen immer noch zuerkannt 
wird. 

Diese Zusammenhänge bei unseren bedeutenden 
Männern zu erforschen, erscheint mir als eine dank- 
bare Aufgabe, die nur auf dem Boden einer metho- 
dischen Familienforschung gelöst werden kann. 


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Literaturnachweis. 

Gustav Koennecke. Bilderatlas der Geschichte der deut- 
schen Nationalliteratur. Marburg 1895. Verlag von Eiwert. 
II. Auflage. 

Titelbild Goethe nach dem Ölbild von Stieler 1828- 
Vgl. ferner die Bilder Seite 279, 283 u. a. 

Karl Heinemann, Goethes Mutter. Verlag von Seemann, 
Leipzig und Berlin 1900. 

VI. Auflage, Seite 4. „Hier (in Wetzlar) trat er bald in 
nähere Beziehungen zu dem ebenfalls aus Frankfurt stammen- 
den Kammergerichtsprokurator Lindheimer, dessen dritte, 
im Juli 1711 geborene Tochter Anna Margarete er im Jahre 
1827 heiratete.“ 

Seite 6. Bildnis von Frau Textor geb. Lindheimer (Aus 
Kesslers Gedenkblättern 1846). 

Seite 8. Anna Margarete geb. Lindheimer (1711—1783). 
In ihrem Bilde kann man große Ähnlichkeit mit 
dem Enkel erkennen (folgt Zitat aus Diintzer). Brief 
Goethes an seine Großmutter nach dem Tode des Groß- 
vaters 1771: „Und so bleibe Ihre Liebe für uns, wie sie 
war, und wo viel Liebe ist, ist viel Glückseligkeit. Ich 
bin mit recht warmem Herzen Ihr zärtlicher Enkel J. W. 
Goethe.“ 

Erwähnung der Großmutter durch W. Goethe in einem 
Schreiben an Kestner vom 28. Januar 1773. 

G. L. Kriegk, Die Brüder Senckenberg. Frankfurt am Main, 
Verlag von Sauerlaender 1869. 

Seite 319. „Die Stadtschultheißin Textorin ist guten Teiles 
schuld an dem Bestellen des Accoucheurs, da ihre Tochter 
Goethin unter Hebamme Müller lang in der Geburt aus- 
gehalten, und das Kind (W. Goethe) vom langen Anstehen 


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ohne Wendung wegen Verzögerung der Blutzirkulation 
schwarz im Gesicht kam.“ 

Seite 342. Frau Textor zu Besuch bei dem Herzog von 
Meiningen. 

Seite 343. „Auch blieb die Stadtschultheißin in Verkehr 
mit armen Verwandten, die sie in Wetzlar hatte. Dies geht 
aus den Akten über eine in Frankfurt dienende, wegen 
Ausschwindeins von Waren verhaftete Dienstmagd hervor, 
welche die Tochter eines Dorfschulmeisters, aber mit 
zwei Wetzlarer Notaren und mit dem dortigen Konrektor 
Trullmann verwandt war. In den Akten befinden sich 
nämlich Briefe der Mutter jener Magd, nach welchen die 
Stadtschultheißin als Base zuweilen an diese Mutter ge- 
schrieben hatte.“ 

Seite 345. Vorwürfe gegen Frau Textor. 

Seite 347. Schwestern von Goethes Mutter: Frau Melber, 
lebhaft, heiter, stets tätig), wurde 89 Jahre alt, gestorben 
1823. 

„Eine andere Tante Goethes war mit dem Pfarrer Johann 
Starck verheiratet. Goethe Schilde, i sie als eine mehr 
ruhige Frau; Senckenberg dagegen sagt, sie habe eine 
feurige Natur gehabt und ihren Mann beherrscht.“ 
W Goethe, Dichtung und Wahrheit. Goethe-Ausgabe von 
Kurz. Leipzig, Bibliographisches Institut, IX. Band. 

Seite 14. Goethes Mutter. 

Seite 37. Frau Melber geb. Textor. „Diese Tante war 
unter den Geschwistern die lebhafteste.“ 

Seite 38. Frau Starck geb. Textor. 

Seite 42. Jene leidenschaftliche Tante“ (Frau Melber?). 

Seite 65. Joh. Mich, von LoSn „war mit der Schwester 
meiner Großmutter Textor, einer geborenen Lindheimer, 
verheiratet.“ 

Seite 67. Senckenberg. 

Seite 451, 456, 465. Wetzlar. 

Wilhelm Herbst: Goethe in Wetzlar 1772. Verlag von 
Perthes in Gotha 1891. 

Vgl. Seite 45. Wohnung Goethes in Wetzlar. 

Seite 46. Großtante Lange geb. Lindheimer, ihr Sohn 
Hofrat Dietz. 


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Seite 86. Johannette Elisabeth Christine Lange, geb. 
30. März 1755. 

Seite 97. Familie Buff. 

Seite 104. Charlotte Sophie Henriette Buff, geb. 11. 
Januar 1753. 

Seite 109. Goethe und Lotte. 

Fritz Stahl. Wie sah Goethe aus? Verlag von Georg 
Reimer. Berlin. 1905. Nr. 17. Miniaturölgemälde vom 
Jahre 1811 (62. Lebensjahr). Von Karl Joseph Raabe. 
Im Besitz des Sanitätsrates Dr. med. Vulpius in Weimar. 
Nach dem Goethe-Jahrbuch XI. 

Vgl. Text Seite 41 . . . Raab es Miniaturportrait vom 
Jahre 1811 (Tafel 17), das von Götter als „zum Sprechen 
ähnlich" beglaubigt worden ist, und das man übrigens 
nur neben Kügelgens zu halten braucht, um zu erkennen, 
daß seine Linien der Natur nachgezogen sind. 

Tafel 24 Ölgemälde vom Jahre 1826 (78. Lebensjahr). 
Von Joh. Jos. Schmeller. Im Goethehaus in Frankfurt 
a. M. 

Vgl. Text Seite 49. „Schmellers sachliches und 
vornehmes Porträt (Tafel 24) zeigt uns den völlig zum 
Greise Gewordenen, trotzdem ihm der Maler wohl noch 
einige Falten und Runzeln erlassen hat“. 

Dieses Bild zeigt die Ähnlichkeit mit dem der Groß- 
mutter geb. Lindheimer sehr deutlich. 

Tafel 27. Zeichnung vom Jahre 1831 — 1832 (82.-83. 
Lebensjahr). Von Karl Aug. Schwerdtgeburth. Im Großh. 
Museum in Weimar. 

Text Seite 53. Es war vorher gesagt worden, daß die 
Greisenbildnisse Goethes eine fortschreitende Vergeistigung 
zeigen. Die letzte Phase dieser Wandlung zeigt uns die 
Zeichnung von Schwerdtgeburth aus dem Jahre 1832 
(Tafel 27). 

Heinrich Düntzer: Goethes Stammbäume. Eine genealo- 
gische Darstellung. Gotha, bei F. A. Perthes 1884. Vgl. 
besonders Seite 10, 13, 14, 15, 16, 18 , 43, 45, 46, 49, 55 
(Bildnis der Frau Textor geb. Lindheimer), 84 (Vererbung 
von Anlagen, Genie). 


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Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig. 



von 

Dr. med. et phil. Robert Sommer, 

Professor an der Universität Gießen. 

gr. 8“. VI und 232 Seiten. Mit 16 Abbildungen und 2 Tabellen. 

1907. 

Brosch. M. 9.—. Geb. M. 10. — . 

Münchner Allgemeine Zeitung: Das Buch ist besonders nach zwei 
Richtungen hin bedeutsam und wertvoll, erstens filr die Erkenntnis der 
Vererbungsprobleme im allgemeinen und zweitens für die Verwertung 
eines besonderen seltenen Falles zur Erforschung des geheimnisvollen, 
komplizierten und schwer zugänglichen Vererbungswesens. Die allgemeinen 
Erörterungen, die nach des Verfassers Plan eigentlich bloß eine Einleitung 
zu der dargelegten Familiengeschichte bilden sollten, sind so reich an 
trefflichen Gedanken und sehr wichtigen neuen Gesichtspunkten, nament- 
lich für die Vererbungslehre, daß schon um dieser Erörterungen willen 
das Buch die größte Beachtung verdient. Oberhaupt ist die ganze Tendenz 
des Buches neben der rein theoretischen Erkenntnis auch auf die praktische 
soziale Gestaltung des Lebens gerichtet. 

Archiv für Kriminalanthropologie: Was Rob. Sommer schreibt, ist 
zum mindesten immer originell und anregend. 

Zentralblatt für Nervenheilkunde: Das interessante Buch, das 
sich an weitere Kreise, nicht nur an Psychiater wendet, bringt in 16 Kapiteln 
eine Erörterung wichtiger Fragen aus dem Gebiete der differentiellen 
Psychologie und Psychopathologie, der Genealogie, der Lehre von der 
Vererbung und Entartung; es enthält weiterhin gewissermaßen als Kern 
die Geschichte einer bürgerlichen Familie (Soldan) vom 14.— 20. Jahr- 
hundert. Der Verfasser weist ein wandsfrei nach, daß nur die Ahnentafel, nicht 
der Stammbaum, einen Einblick in das gewähren kann, was einer von seinen 
Vorfahren erlebt hat; zur Erkenntnis der Vererbungstatsachen innerhalb 
der Familie bedarf es der Untersuchung der Stammbäume (Deszendenz 
bestimmter Vorelternpaare) und der Ahnenreihe (Aszendenz) bestimmter 
Personen; so erhält man ein System der Blutsverwandtschaft. 

Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie: Der Inhalt kristalli- 
siert sich als Einleitung und Einführung in die Fragen menschlicher Ver- 
erbung und als Schlußfolgerungen aus gestellten Problemen um die Ge- 
schichte einer bürgerlichen Familie, in der an einer Reihe von öffentlich 
hervortretenden Mitgliedern ähnliche seelische Anlagen auch unter 
wechselnden äußeren Einflüssen nachgewiesen werden können. 


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